ESSAY | IMAGINATIONS(T)RÄUME

AN DER SEINE | 100 x 100 cm

Text: Dr. Sylvia Dominique Volz, Kunsthistorikerin, Berlin 2010

BARBARA GERASCH: KALEIDOSKOPISCHE IMAGINATIONS(T)RÄUME

Eine weite, erdig-dunkle Landschaft erstreckt sich über das untere Bilddrittel. Am Horizont mündet sie in ein rötlichbraunes Bergmassiv ein, über das der Himmel seinen zarten, blauschimmernden Dunst zu legen versucht. Doch jäh wird unser fernschweifender Blick in die vordere Bildebene zurückgeholt: Kreisrunde Gebilde, deren vielfältige Struktur an Kaleidoskop-Bilder erinnern, schweben durch den Raum, scheinen aus dem Hintergrund an uns heranzutreten, um sich erneut darin zu verlieren. Auch die linke Bildhälfte lässt unser Auge stutzig werden; fast wird sie von einem bräunlich-ockerfarbenen Vorhang verschlungen, wären da nicht die Konturen eines vorbeispazierenden Paares, welche einen ausschnitthaften Blick in die dahinterliegenden Weiten jener Landschaft erlauben…

Als “Atmosphärische Störung“ bezeichnet Barbara Gerasch ihre jüngst entstandenen Arbeiten. Und tatsächlich, betrachtet man das Bild, dessen Sprache auf den ersten Blick so klar scheint, ein zweites Mal, werden Fragen aufgeworfen, die das vermeintlich Erkannte bezweifeln lassen. Ist die Landschaft tatsächlich eine Landschaft oder lediglich eine Kombination aus Horizontalen und Vertikalen, die sich in schier unendlicher Wiederholung dünner Farbschichten übereinander legen und vielleicht doch eher an eine textile Struktur erinnern? Was erfahren wir über die Identität der Figuren? Sind sie von ihrer Haltung und Bekleidung her nicht gar dem Kontext eines Modemagazins entsprungen? Woher kommen die kreisrunden Ornamente und wohin gehen sie? Fragen, die auch der Bildtitel „An der Seine“ nicht zu beantworten vermag.

Ausgangspunkt sowie verbindendes Element der neuen Arbeiten Geraschs ist der gitterähnliche Bildaufbau, der durch einen spannungsvollen Wechsel aus Lasuren und dichten monochromen Flächen erzeugt wird. Dass letztere, im starken Kontrast zu den transluzenten Schichten, den räumlichen Tiefeneindruck verstärken, zeigt besonders eindringlich die Arbeit „Rette sich, wer kann“: Gegen den schwarzen vertikalen Streifen der linken Bildhälfte scheint sich unser Blick in den gegenüberliegenden Weiten einer afrikanisch anmutenden Steppe regelrecht zu verlieren. Die durch die Komposition aus überwiegend gebrochen-farbigen Flächen entstehenden Strukturen erwecken unweigerlich Assoziationen mit Naturerscheinungen, erinnern an Organisches wie Schwämme oder gar Verästelungen, die sich wie grünliche Adern über das ockerfarbene Afrika zu legen scheinen.

Parallelen zu den Arbeiten von Peter Doig werden erkennbar, zu dessen Bildräumen aus unterschiedlich gestalteten, farbig strukturierten Flächen und Lasuren. „Aber“, erläutert Barbara Gerasch, „im Gegensatz zu ihm entwerfe ich in meinen Bildern kein realistisches Szenario, sondern nehme das Ganze, vor allem durch die abstrakte Komposition und die kreisrunden Muster, aus einem realistischen Zusammenhang heraus, selbst wenn figürliche Elemente im Bild vorhanden sind.“

Blicken wir auf ihre früheren Arbeiten wie „Es ist angerichtet“ (2009) zurück, so ist bereits dort eine Thematisierung des Bildraums als übergreifend-verbindendes Element deutlich spürbar. Über 21 Tafeln hinweg hat die Künstlerin den an kostbaren Seidenbrokat erinnernden goldroten Hintergrund sich entfalten lassen. Jetzt, verdichtet auf nur einen Bildträger, hat sich der Bildraum spürbar geöffnet, schier grenzenlos, ohne dabei seine allumfassende Aufgabe zu vergessen.

Eine ähnliche Entwicklung ist für ihre konsequente und charakteristische Verwendung von kreisförmigen Elementen festzustellen. Im Vergleich zu früheren Arbeiten wie „My Home is My Castle“ (2009), welche mithilfe von Strukturpaste eigens angefertigte Filetspitzen in die Leinwand integrierten, fällt nun eine deutliche Verflachung ins Auge. Die filigranen Handarbeiten in unzähligen Varianten erfahren keinerlei materielle Einbindung in den Bildträger mehr, sind nicht mehr be-greifbare Struktur, sondern dienen nunmehr als Schablone.

Aus der Integration der Muster in die farbigen Flächen des Hintergrunds ergibt sich eine faszinierende Rhythmik von Formen, die den Farbschichten manchmal aufliegen oder unter mehreren Lasuren beinahe verschwinden. Mit der Reduktion der Spitze auf einfache geometrische Formen überführt Gerasch die Ornamente, welche sie im Übrigen als ihr persönliches Zeichen beschreibt, in die Zweidimensionalität.

Virtuos gelingt es ihr letztlich, diese Verflachung erneut zu überwinden, indem sie die Ornamente in gekonnter Anordnung und Staffelung zu Vermittlern von Raum macht. Dies zeigt sich besonders prägnant bei „Sonnenfinsternis“, wo zahllose kreisrunde Elemente nahezu durch den kompletten Bildraum zu schweben scheinen. Fast meinen wir, ihre Bewegung spüren zu können, wenn sie sich ent-materialisert und leicht wie Seifenblasen aus dem Hinter- in den Vordergrund oder umgekehrt zu bewegen scheinen. Das große Ornament, welches in geheimnisvoll bläulich-rotschwarzen Farbtönen aus den Tiefen des Bildes empor zu leuchten scheint, lässt unmittelbar Assoziationen mit einem Kirchenfenster aufkommen.

Es erweckt im Betrachter den Wunsch, noch mehr über den mystisch-sakralen Raum erfahren, seine Tiefen noch weiter ergründen zu können, doch Gerasch überlässt den Rest seiner Imagination. Überzeugend gelingt es ihr, die allgemein übliche, spöttisch-abwertende Beschreibung des Ornaments als bloße „Dekoration“ zu konterkarieren. Wie insbesondere „An der Seine“ zeigt, „…sind die kreisrunden Formen als Bruch, als Störung der Atmosphäre gedacht, sie bringen Dynamik in die Komposition, sind farbiger Spannungspunkt, machen Räumlichkeit sichtbar. Zudem nehmen sie figürliche Elemente aus einem realistischen Zusammenhang. Sie führen den Betrachter immer wieder in die Irre, wenn sie gleichzeitig in verschiedenen Ebenen auftauchen“. Die Ornamente treten in Wettstreit mit dem Bildträger – wer dabei als Sieger hervorgeht, variiert.

Was die seltsam un-griffigen Figuren angeht, so war es Gerasch bereits in früheren Arbeiten wie „Es ist angerichtet“ (2009) nicht um die Darstellung einzelner Individuen gegangen. Vielmehr hatte sie auf der Suche nach dem Verbindenden, dem Gruppenimmanenten, die einzelnen Gesichter der deutschen Fußballdamen einer weitestgehenden Anonymisierung unterzogen. Auch hier stellen wir fest, dass die Künstlerin den Weg der Abstraktion weiter beschritten hat, wenn sie Figuren nunmehr mithilfe von Schablonen in Raum, Struktur und Farbe ihrer Bilder integriert.

Entweder tauchen sie als transparente, lediglich sphärisch wahrnehmbare Figuren auf und lassen den Blick auf die hinterfangenden Weiten des Bildraums frei, oder sie vermitteln sich in körperlich greifbarer, aber dennoch ent-personalisierter Silhouette, so wie bei „Rette sich, wer kann“. Wer sind sie, was tun sie? Spielende, herumtobende Kinder? Fragen, die offensichtlich irrelevant geworden sind. Was wir stattdessen wahrnehmen, ist eher eine Changieren zwischen Sein und Nichtsein, zwischen Körperlichkeit und transparenter, entmaterialisierter Präsenz, welches dem Auge des Betrachters auf seiner Suche nach Orientierung Halt geben will und einmal mehr Räume der Imagination öffnet.

Barbara Gerasch entwickelt aus der Flächigkeit der einzelnen Elemente erstaunlich schlüssige und doch undefinierbare Raumsituationen, die sich dem Betrachter in ebenso unzähligen Schritten erschließt, wie es Malschichten auf der Leinwand gibt. Entscheidend für die Künstlerin ist dabei, uns keine definierte Lesart vorzugeben: „Es muss dem Betrachter genug Raum für Spekulationen und Assoziationen bleiben, er soll meine Bilder weiterdenken, sich eigene Szenarien in der Natur, im Weltall oder wo auch immer entwerfen.“

Trotz der deutlich wahrnehmbaren Reduktion ist in ihren Bildern dennoch keinerlei Verflachung festzustellen, sondern es öffnen sich uns – im Gegenteil – erstaunlich weite Räume, die in einer faszinierenden Abstufung von unterschiedlich dichten Farbschichten und Formen entstehen.

Mit fortschreitender Abstraktion hat Barbara Gerasch also ihren Weg weiter konkretisiert. Sie hat sich auf die nie versiegende Suche nach der Ergründung räumlicher Tiefen und ihrer undefinierbaren Vielschichtigkeit begeben…