ESSAY | DAS UNIVERSELLE – ALTAR DER 100 ALTEN

Text: Andrea-Katharina Schraepler, Kunsthistorikerin, Berlin

Das Triptychon geht über die rein formale Reminiszenz dieser Bildgattung innerhalb der zeitgenössischen Kunst hinaus. Nach außen zeigt es sich zwar in der Gestalt eines traditionellen Flügelaltars, inhaltlich geht es der Malerin jedoch um die künstlerische Auseinandersetzung mit dem Thema der Offenbarung.

Barbara Gerasch versteht Offenbarung als Synonym für etwas, das Klärung bzw. Klarheit verschafft, oder für etwas, das plötzlich viele Dinge verstehen und erkennen lässt. Offenbarung als Enthüllung göttlicher, übergeordneter und universeller Wahrheiten. Was aber sind für die Künstlerin universelle Wahrheiten? Die Antworten auf diese Fragen finden sich im Kunstwerk selbst.

Auf den ersten Blick fällt der goldene Hintergrund der beiden Seitenflügel als leuchtende und das Licht reflektierende Folie ins Auge. In symmetrischer Reihenfolge sind Porträts alter Menschen angeordnet. Die Malerin zeigt das Alter als demonstrativ bildwürdig und nobilitiert es zusätzlich mittels des Goldgrundes. Dieser ist in der Kunstgeschichte überwiegend sakralen Sphären zugeordnet und verleiht einzelnen Figuren und Szenen eine göttliche Aura. Barbara Gerasch enthebt das Alter dem Bereich des Makels und wertet es ideell auf.

Die Mitteltafel zeigt, im Unterschied zu den figurativen Seitentafeln, abstrakte, kreisförmige Muster und Punkte vor einem in dunklen Brauntönen gehaltenen Hintergrund. In feiner, transparenter Malweise sind mehrere Farbschichten übereinander gelegt, so dass Raumtiefe erzeugt wird.

Die gedämpften Farben der einzelnen Motive werden zum Vordergrund hin heller und strahlender. So verändert sich ihr Spektrum von dunkeln Braun-, Rot- und Grüntönen, über Hellbraun zu Hellblau bis hin zu klaren, leuchtenden Farben. Lichtes Grün alterniert dann mit glänzendem Blau, schimmerndem Rot und klarem Violett.

Die große Kugel in der Bildmitte ist aufgrund ihrer Dreidimensionalität das dominanteste Motiv. In ihr lässt sich schemenhaft ein menschlicher Fötus erkennen. Zusätzlich wird der Blick des Betrachters magisch von einem hellen, rechteckigen Bildfenster, das sich ebenfalls im Zentrum der Mitteltafel befindet, angezogen.
Unterhalb der farbigen und leuchtenden Bildmitte werden die Längsbalken dreier Kreuze sichtbar, die kaum erkennbar durch einen Querbalken miteinander verbunden sind.
Der menschliche Fötus, die farbig filigranen Muster und das helle Fenster sind allesamt den Kreuzen vorgelagert. Diese Motive und ihre Farbwirkung bestimmen in ihrer lebensbejahenden und zuversichtlichen Ausrichtung das Herzstück des Altars.

Insgesamt erzeugen die nach unten fließenden Farbspuren und die transparenten Malschichten Dynamik und Prozesshaftigkeit. Die Mitteltafel gewinnt dadurch einen deutlich transformatorischen Charakter. Um genau diese Bildwirkung geht es der Künstlerin. Barbara Gerasch hat sich mit den Parabeln des Thomasevangeliums auseinandergesetzt und hier vor allem mit drei mündlich überlieferten Äußerungen Jesu:

(004): “Der Mensch, alt in seinen Tagen, wird nicht zögern, ein kleines Kind von sieben Tagen über den Ort des Lebens zu befragen, und er wird leben. Denn viele Erste werden Letzte sein, aber sie werden alle zu einem werden.

(018): „..Selig ist der, der im Anfang stehen wird. Da wird er das Ende erkennen, und er wird den Tod nicht schmecken.“

(042): „Werdet Vorübergehende.“

Das inhaltliche Anliegen des Triptychons ist von der Idee des Thomasevangeliums getragen, sich als Mensch als Vorübergehender zu begreifen, der in einen ihm übergeordneten Zyklus eingeschrieben ist. Die Begegnung von Alter, wie in den Porträts der alten Menschen auf den Seitentafeln dargestellt und dem Fötus, der das Zentrum der Mitteltafel ausmacht, schließt einen Kreis vom Letzten über das Erste. Eine Rückkehr zum Anfang scheint möglich zu sein, vielleicht sogar zu einem Anfang, der irdischer Existenz voraus liegt.

Ein Kreis, der auch von der letztendlichen Aufhebung individueller Charakteristika menschlicher Existenz kündet.

Dieses Verständnis des menschlichen Seins kommt für Barbara Gerasch einer universellen Wahrheit gleich. Das Leitmotiv des Triptychons, die Auflösung des einzelnen Menschen in einer göttlichen Einheit, greift die Malerin künstlerisch mittels der Idee des Partizipatorischen auf.

Die Künstlerin beteiligte Jugendliche aus einer evangelischen Kirchengemeinde und ließ sie kreisförmige, grazile Muster malen. Die Vielfalt der einzelnen Resultate integrierte sie auf der Mitteltafel und vereinte sie schlussendlich zu einer Gesamtkomposition.

Auf intelligente Weise gelingt es Barbara Gerasch auf der Ebene der Kunst eine Analogie zu schaffen, in der das Einzelne ebenfalls in ein Ganzes einfließen kann.